Raoul Schrott über Euripides
Autor und Übersetzer Raoul Schrott über seine Faszination für Euripides
«Ich kenne keine besseren Stücke als die des Euripides, mit ihrer perfekten Mechanik im Kreislauf eines Geschehens, bei dem das Tragische ins Komödiantische und wieder zurück kippt, in einem Zirkel, bei dem das Leben ein Theater, das Existentielle ein Drama und das Theater ein Leben ist, bei dem sich jede Figur vom Positiven ins Negative verkehrt und umgekehrt, als Produkt eines Schreibens, das – anders als bei Aischylos und Sophokles – erstmals in Griechenland, und damit in unserer Kulturgeschichte, das Individuum wahrnimmt in all der Brüchigkeit wie der Neuheit seiner Rollen, in einem Geist, der das Theater als Gerichtsverhandlung vor einem Publikum sieht, Kläger und Verteidiger vor dem Chor der öffentlichen Meinung, die Götter als Jury und Richter, aber auch als Täter und Anstifter, da sie für Euripides ebenso fraglich geworden sind wie der jetzt im 5. Jahrhundert v. u. Z. erstmals einzeln auftretende Mensch, der sich von seiner Identität im Kollektiv abzusetzen beginnt, ohne noch zu wissen, wer er wirklich ist oder sein kann, ein Ablösungsprozess, den Euripides wieder und wieder thematisiert und der so archetypisch ist, dass er auf uns modern wirken kann, so zeitgenössisch wie Euripides‘ Dialoge in ihrer auf die damalige Umgangssprache ausgerichteten Tonlage (was Theaterkritiker allzu oft verkennen und zu Unrecht der Übersetzung vorhalten, von der sie sich ‚Erhabenheit des Ausdrucks‘ erwarten) ebenso wie ihrer intellektuellen Scharfzüngigkeit (die mich stets an Edward Albees «Wer hat Angst vor Virginia Woolf» erinnert), während die Chöre und Monologe von einer seltenen Poesie sind, so prägnant und bildlich, um in diesen gleichsam reliefartigen Sätzen eine conditio humana zu verhandeln, an deren fundamentalen Bedingtheiten, sprich: Trieben, Begierden, Makeln, Sehnsüchten, Wünschen und anderen Hinterfotzigkeiten sich bis heute nichts geändert hat, die jedoch zu Euripides‘ Zeit neu verhandelt werden, mit den alten traditionellen Rechtsbegriffen des Heiligen und den neuen Rechtsansprüchen des sich davon emanzipierenden Individuums. Dies alles wird nirgends deutlicher als in dieser «Orestie», die sich aus dem Zusammenschluss zweier eigenständiger Stücke Euripides‘ ergibt und jener weihevollen des Aischylos‘ ebenso entgegengesetzt war wie der würdevollen «Elektra» des Sophokles, eine «Orestie», die keiner bei uns kennt, obwohl ihr «Orestes» einmal das meistgespielte Stück der Antike überhaupt war, und die mich, als ich sie zum ersten Mal las, sofort an Baader, Meinhof und Ensslin erinnerte, an die Selbstgerechtigkeit des Terrors und die Armseligkeit seiner Attentate, die Gewissenbisse und Zerrissenheiten nach der Tat und die Reaktionen der Gesellschaft darauf, in einer Landschaft, welche immer noch die unsere ist, auch die der Selbstmordanschläge und der #metoo-Bewegung, mit der Euripides hier zudem die Gleichberechtigung der Frau thematisiert, und all dies so überaus politisch in einer Weise auf die Bühne bringt, dass sie weder etwas mit Brecht noch mit Agitprop zu tun hat, sondern zu Gesamtkunstwerk gerät, mit welchem das antike Theater mit simpelsten Mitteln, Masken und dem fixen Hintergrund eines Bühnenbilds, ein grosses Ganzes von Gesang, Tanz, Instrumentalmusik und Dialogen inszeniert, das alles übersteigt, was ich sonst vom Theater kenne, und dabei doch zutiefst menschlich bleibt, weshalb ich vor niemandem so grossen handwerklichen Respekt habe wie vor Euripides und mir beim Übersetzen seiner Stücke jedes Mal wünsche, selbst einmal so ein vollkommenes Stück schreiben zu können.»