«echt»
Liebes Publikum
echt – vier Buchstaben, die vieles ausdrücken können: Erstaunen, ein Gütesiegel, Respekt, wenn mit einem Ausrufezeichen versehen, oder – mit Fragezeichen – Anflug von Skepsis, Erschrecken. Je nach Kontext und Sprechmelodie changiert dieses kurze Wörtchen, das sich durch unsere Sprache zieht und das wir durch unsere neue Spielzeit ziehen lassen, in einem erstaunlich weiten Bedeutungsspektrum.
Das echte scheint verlockend. Und wenn wir dieses echte zu fassen versuchen, dann sprechen wir im nächsten Atemzug von der Sehnsucht nach Authentizität. Im Privaten wie im Beruflichen und paradoxerweise auch in unseren digitalen Illusionswelten. Die Geschichte der emotionalen Innenschau, die mit dieser Sehnsucht verbunden ist, geht bis ins 18. Jahrhundert zurück: als Lessing mit seiner Wortschöpfung des «Empfindsamen» der Wahrnehmung von Gefühlen in der wissenschafts- und ratiohungrigen Aufklärung Aufmerksamkeit verlieh. Sie setzte sich fort bei den Romantiker*innen, die mit Melancholie und Fantasie den unverfälschten Kern des Daseins ausdrücken wollten. Die Wirklichkeit der Idee und das echte Abbild suchte der literarische Realismus künstlerisch zu fassen, bevor im 20. Jahrhundert künstlerische Strömungen wie Symbolismus und Expressionismus wieder innere Zustände überhöhten und vergrösserten. Die Postmoderne erschütterte den Begriff des Echten nachhaltig und ersetzte die Vorstellung einer eindeutigen Identität durch die eines pluralistischen Ichs, das verschiedene Zuschreibungen erfahren kann. Dieses pulverisierte Ich wieder zusammenzuführen und fassbar zu machen, ist eine Sehnsucht unserer Spätmoderne, die der Soziologe Andreas Reckwitz deshalb als eine «Kultur des Authentischen» beschreibt.
Authentisch sein zu wollen, formuliert auch den Wunsch, sich in einer zunehmend komplexen Welt nicht zu verlieren, sondern sich in einem Ich klar zu verorten sowie Wahrheiten und Gewissheiten für sich zu markieren. Doch hilft uns dieses Bestreben in einer Zeit, in der wir ständig Widersprüchen ausgesetzt sind? In der uns drängende Fragen von Ungleichheit,
Grenzverschiebungen, Krieg und Umweltzerstörung bestimmen? Und in der ein Ich in der Aussendarstellung so leicht veränderbar ist wie noch nie – zumindest in der Welt der Social Media? Hinter dem Stichwort Authentizität verbirgt sich oft ein Vereinfachungsschema, mit dem wir der Vielschichtigkeit des Menschen und der Welt nicht beikommen. Die Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie formuliert den Gedanken, dass es eben gerade nicht die eine, singuläre Geschichte gibt, sondern dass wir der Komplexität der Welt und ihrer Kulturen nur durch das Erzählen von vielen Geschichten begegnen können, um uns ein «Stück vom Paradies» zurückzuerobern. Ein schöner Gedanke. Denn ist dieser Wunsch, dem Echten auf die Spur zu kommen – im Wissen, dass wir es nicht wirklich ergründen können und es vielmehr mit unzähligen Geschichten umreissen – nicht wunderbar im Theater aufgehoben? Hier durchdringen sich Realität und Fantasie wechselseitig. Echtes und Erfundenes bilden auf der Bühne eine Einheit. Und als Zuschauende können wir im Theater die Perspektive wechseln – vom Ich zum Gegenüber. Wir definieren das, was auf der Bühne geschieht, als echt. Oder unecht. Oder als etwas dazwischen. Oder wir können dieser Frage den Laufpass geben und uns hineinbegeben in Fantasie und Spiel.
Echt – diese vier Buchstaben beschreiben auch zentrale Sinneszustände, die man im Theater erlebt. Ob es mit einem Frage- oder Ausrufezeichen daherkommt, einer Darstellung das Siegel der Realitätsnähe verleiht oder die Furcht vor der Wahrheit ausdrückt – dieses echt bildet den Kontext, in dem wir uns bewegen. Die Magie des Theaters entsteht in einem Dialog zwischen Darstellenden und Publikum. Sie teilen sich einen Resonanzraum – also einen gemeinsamen Raum, in dem etwas der Wortbedeutung nach widerhallt. Unabhängig davon, wie viel Verfremdung das Spiel auf der Bühne mit sich bringt oder wie nah es an die Realität heranreicht, ist Theater per se ein live und authentisch agierendes Medium. Ein echtes Gegenangebot, das Wirklichkeit schafft. Für Salman Rushdie besteht die Kunst der Fiktion genau darin: «Dinge zu erfinden, die nicht wahr sind. Aber man muss sie so erfinden, dass sie wahr werden.» Das also, was schnell als unecht qualifiziert wird – Träume, Visionen, Utopien – können wir im Theater echt und wahrhaftig werden lassen. Es ist demnach auch ein Auftrag an uns Theaterschaffende selbst, den wir mit dem Motto der Spielzeit 23/24 kurz und bündig in Worte fassen. Echt? Echt!
In unserem Spielplan spüren wir diesem Bedürfnis nach. Wir wollen in der Oper, im Schauspiel und im Tanz eintauchen in Themen und Erzählungen, Dramen und Komödien – gemeinsam mit den Künstler*innen unserer starken Ensembles. Sie verkörpern die zahlreichen Figuren der neuen Spielzeit, mit ihrer Fantasie, ihren Herzen, ihrer Energie, mit all der Verrücktheit und Kreativität, die Theater braucht. Sie tauschen sich selbst für die Dauer der Aufführung gegen ein anderes Leben aus – echt! Sie bringen bedeutende Opern und Dramen ebenso wie aktuelle Stoffe und Uraufführungen für Sie, liebes Publikum, auf die Bühne. Mit Werken wie «Die Orestie» von Euripides, Puccinis «La Bohème», der romantischen Oper «Hänsel und Gretel» oder Agatha Christies Kultkrimi «Mord im Orientexpress» und den drei Tanzabenden stehen in diesem Jahr wieder viele grosse Ensemblestücke auf dem Spielplan. Mit Vivaldis «Giustino» setzen wir auch unsere Beschäftigung mit der Barockoper fort – unter der musikalischen Leitung des veritablen Barockspezialisten Jörg Halubek.
Wir beginnen diese Spielzeit an einem ganz besonderen Ort: in einem geschichtsträchtigen Gebäude mitten im Publikumsraum unseres Luzerner Theaters. Hausszenograf Valentin Köhler versetzt für DAS HAUS eine echte 150jährige Mosterei aus der Umgebung ins Theater und macht sie für die beiden Eröffnungsproduktionen zur Bühne. Darin zeigen wir zwei antike Stoffe, die sich mit Fragen nach Eigenverantwortung, kollektiver Erinnerung, Liebe und familiärem Vermächtnis befassen. Schauspieldirektorin Katja Langenbach führt Regie bei der Uraufführung von Raoul Schrotts neuer, kraftvoller Übertragung von Euripides «Orestie». Als Koproduktion mit Lucerne Festival folgt Magdalena Fuchsbergers Interpretation von Henry Purcells Barockoper «Dido und Aeneas». Am Pult des Luzerner Sinfonieorchesters wird unser neuer Musikalischer Direktor Jonathan Bloxham zu erleben sein. Ebenfalls neu am Haus ist Operndirektorin Dr. Ursula Benzing. Gemeinsam übernehmen sie die Opernleitung am Luzerner Theater.
Der spartenübergreifende Gedanke zieht sich weiterhin durch die Zusammenarbeit an unserem Haus. Er war impulsgebend für Regisseurin Corinna von Rad: Sie inszeniert mit Ensemblemitgliedern aus Schauspiel und Oper den berühmten Roman «Orlando» von Virginia Woolf, der mit der völligen Auflösung von zeitlichen Dimensionen und Geschlechtergrenzen die Frage nach Echtheit bearbeitet. Ebenso spartenübergreifend wird unser Kinderstück «Petitpas & ich» sein, eine gemeinsame Produktion von Künstler*innen aus den Sparten Tanz und Figurentheater.
In allen Stoffen spüren wir immer auch unserer Gegenwart nach. Denn wir sehen klar den Auftrag, uns zu dem zu verhalten, was uns im echten Alltag unserer Zeit umgibt. Besonders manifestiert sich dies in den Uraufführungen und Schweizer Erstaufführungen: Mit «Die Ärztin» holt Robert Icke Schnitzlers «Professor Bernhardi» als lustvoll und bissig verhandelte Identitätspolitik in unsere Zeit. Teresa Doplers «Monte Rosa» ist ein leichtfüssiges Stück über drei Alpinisten auf Gipfeltour, in dem herausfordernde Themen wie Selbstoptimierung und Klimawandel verhandelt werden. Mit «ausgesprochen ich» entwickelt Ensemblemitglied Rüdiger Hauffe einen sehr persönlichen und authentischen Abend im UG über die Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit und über den Mut, Schweigen zu brechen.
Das Musiktheater «Der Doppelgänger», eine gemeinsame Arbeit mit den Schwetzinger SWR Festspielen, basiert auf der gleichnamigen Erzählung von Dostojewski, die ganz direkt das Thema Echtheit und Spiegelung thematisiert. Die ukrainische Autorin Katja Petrowskaja hat sie gemeinsam mit Lucia Ronchetti, unserer nächsten Komponistin in Residence, bearbeitet. Die Uraufführung wird im April in Schwetzingen zu sehen sein, um dann in der anschliessenden Spielzeit ans Luzerner Theater zu kommen.
Wir vernetzen uns weiter, sowohl regional als auch international. Die Koproduktion «Licht» mit den Münchner Kammerspielen, dem Kaai Theater Brüssel und dem FFT Düsseldorf ist eine dokumentarische Arbeit der Regisseurin Tea Tupajić mit jesidischen Frauen, die den Genozid am jesidischen Volk im Nordirak erzählen. Im Mai findet die zweite Ausgabe des Festivals «the future is now» statt, das in der Zwischenzeit gewachsen ist: Wir freuen uns, dieses einmalige Festival nun für Absolvierende der Theater-Hochschulen aller Schweizer Sprachregionen gemeinsam mit dem Südpol auszurichten. Innerhalb Luzerns verbünden wir uns mit Fellmann / Stierle und zeigen im UG die echt kultige Theater-Sitcom «Müllers». In jeder der vier Episoden wird eine Künstlerin oder ein Künstler aus unserem Schauspielensemble als Special Guest dabei sein.
Im Tanz laden wir auch in der Saison 23/24 wieder Choreograf*innen aus der ganzen Welt ein, die mit ihren unterschiedlichen Handschriften die Vielfalt des Tanzes nach Luzern bringen. Sie werden mit und für unsere Tänzerinnen und Tänzer von TanzLuzern allesamt neue Kreationen erarbeiten. Die Handschriften der beiden jungen Künstler*innen Lida Doumouliaka aus Griechenland und Kim Jae-Duk aus Südkorea verbindet vor allem, dass sie ihre Choreografien aus der Musik und deren Energie heraus entwickeln. Die spanische Choreografin Alba Castillo variiert Johann Sebastian Bachs «Goldberg-Variationen» und recycelt dabei ein Bühnenbild aus der Spielzeit 22/23 echt nachhaltig. Mohammed Kaltuk ist einer der aufregendsten Künstler der Hip-Hop-Szene. Der gebürtige Basler hat sich bereits in unserer ersten Spielzeit mit einer bewegenden Choreografie in Luzern einen Namen gemacht und gestaltet nun den dritten grossen Tanzabend dieser Spielzeit auf der Bühne.
Unsere Sparte Junges Luzerner Theater blickt auf zwei sehr erfolgreiche erste Spielzeiten zurück. Die Zusammenarbeit mit den Schulen hat sich rasant entwickelt, dabei sind mehrere neue Kooperationen entstanden. Beim «Krabbelkonzert» haben bereits die Allerjüngsten das Theater für sich erobert und unser Patenbaby-Programm zählt mittlerweile 200 Patenkrabbelkinder! Das ist für uns eine grossartige Motivation, unser Angebot für das junge Publikum weiter auszubauen. Unser Anliegen ist es, Theater für alle Generationen zu machen, daher zeigen wir Produktionen für die Jüngsten, für Kinder, Familien und Jugendliche in allen Sparten. Denn gerade jungen Menschen bietet Theater einen wichtigen Gegenentwurf des Echten zur digital geprägten heutigen Zeit.
Auch im Figurentheater gibt es Grund zur Freude: Wir feiern in dieser Spielzeit sein 40-jähriges Bestehen. Zu diesem Anlass zieht das Figurentheater für mehrere Monate direkt ans Theater in die Box. Von November bis Januar kann das Publikum in der kindgerecht gestalteten Box die ganze Vielfalt des Figurentheaters erleben, samt Geburtstagsparty und Rahmenprogramm. Für unsere Patenkinder – und natürlich auch alle anderen – kreieren die Figurentheaterleiterinnen Sibylle Grüter und Jacqueline Surer alias Gustavs Schwestern gemeinsam mit Teresa Rotemberg, der Leiterin des Jungen Luzerner Theaters, die «Kuscheltier-Safari».
Junge wie ältere Märchenfans ab sechs Jahren können sich mit ihren Familien auf das grosse Familienstück «Dornröschen» freuen. Danach schmieden wir mit Regisseurin Brigitte Dethier weiter am dritten Teil des «Ring-Dings» und bringen mit «Siegfried!» ein neues Musiktheater auf die Bühne. «Die Leiden des jungen Werther» für alle ab 14 Jahren führt uns die Aktualität dieses jungen Radikalen plastisch vor Augen. Ausserdem schwärmen wir wieder mit mobilen Produktionen ins echte Schulleben aus, direkt in die Klassenzimmer der Region – neu auch mit «Die Eisbärin», einem Stück zum Thema Social Media.
Um all diese Geschichten zu erzählen und magische Momente auf der Bühne zu erschaffen, braucht es viele Köpfe und Hände. Die Mehrheit der vielen Menschen an unserem Theater wirkt dabei hinter den Kulissen, auf der Bühne, in den Ateliers, den Werkstätten und Büros oder während des Vorstellungsbetriebs für unser Publikum. Für das riesige Panoramabild in diesem Spielzeitheft haben wir sie und die Künstler*innen unserer Ensembles gemeinsam auf die Bühne gebracht – diesen Ort der Verwandlung, immer bereit, eine neue, echte Welt entstehen zu lassen.
Echt – dieses Adjektiv kommt uns nicht zuletzt auch in den Sinn, wenn wir an das Projekt Neues Luzerner Theater denken. Die Architekten Andreas Ilg und Marcel Santer haben das Siegerprojekt des Architekturwettbewerbs gestaltet. In ihrem grossartigen Entwurf machen sie aus dem bestehenden Theatergebäude ein weiträumiges, belebtes Foyer für die Öffentlichkeit. Und das Herzstück des Erweiterungsbaus ist ein akustisch hervorragender Saal für das Musiktheater. Das Projekt greift die grosse und lange Theatertradition Luzerns auf und formuliert eine wunderbare Utopie von einem Theater, das für die vielen Mitarbeitenden des Luzerner Theaters kreative Heimstatt ist und das mit offenen Türen alle Menschen einlädt. Eine Utopie, der wir gerne mit einem Stempel das Gütesiegel verleihen möchten und die bereits auf gutem Weg ist, Realität zu werden. Auch darauf freuen wir uns, begleiten Sie uns dabei!
Ihre Ina Karr und Team