«Pragmatisch», eine Kolumne von Fabienne Lehmann
Pragmatisch
Warum meine Grossmutter ihr Hochzeitskleid einer Fremden schenkte
Heidi hat mir schon oft von dem Moment erzählt, als wir uns kennen lernten. Ich war drei Jahre alt, gerade aus meinem Mittagsschlaf erwacht und stand auf der obersten Treppenstufe. Es war mein erster Mittagsschlaf in diesem Haus, mein erster Mittagsschlaf in meinem zweiten zu Hause.
Meine ostpreussische Grossmutter, die mich bis dahin mit aufgezogen hatte, die nicht mitgekommen war auf diesen Hof im Schweizer Irgendwo, diese Grossmutter hatte mir beigebracht, mich vor «Fremden» fern zu halten.
«Wenn dich jemand anfassen will Püppi,» hatte sie mir unablässig eingeprägt, «dann schreist du ganz laut Gehen Sie weg!»
Und so erwachte ich, mit drei Jahren, das erste Mal ohne ostpreussische Grossmutter, aus meinem Mittagsschlaf, blieb auf einer fremden Treppe in einem fremden Haus stehen und sagte laut «Geh weg», als eine fremde Gestalt durch den fremden Hausflur auf mich zukam.
Meine ostpreussische Grossmutter hatte Angst vor Menschen, meine Schweizer Grossmutter nicht. Meine Schweizer Grossmutter hatte nie in einem Kriegsgebiet gelebt, hatte sich nie vor Tieffliegern hinter Ackerfurchen ducken und aus ihrem zu Hause flüchten müssen. Meine ostpreussische Grossmutter war traumatisiert und aufbrausend und skeptisch, meine Schweizer Grossmutter hingegen war durch und durch pragmatisch.
Pragmatisch. Auf einem Hof bedeutet das, zusammen zu arbeiten. Auf einem Hof bedeutet zusammen zu arbeiten, zusammen zu leben. Es bedeutet, mit fremden Menschen das Essen zu teilen, dieselbe Dusche zu benutzen, einander die Wäsche zu falten und aufs Bett zu legen.
Pragmatisch, das bedeutet, es sich nicht leisten zu können, modischen Ideen und Idealen von Familie nachzugehen. Hier, in einer Realität zwischen Krieg und Bürgertum, ging es um das, was da, was fassbar war. Der Schweiss, von der Arbeit auf dem Feld, die zerschnittenen Fingerkuppen, vom Äpfel rüsten.
Familie, das bedeutet hier alles und nichts.
«Geh weg, hast du gesagt», erzählt Heidi, «und dann bin ich auf dich zugegangen, habe dich gepackt und dich nach oben getragen. Von da an haben wir uns verstanden.»
Wir stehen in ihrem Wohnzimmer, der Kachelofen strahlt soviel Wärme aus, dass ich fast zu schwitzen beginne und Heidi blättert in einem alten Fotoalbum.
«Ich hatte mehr weder nicht 10 Leute am Tisch. Und das drei Mal am Tag!» Heidi schnalzt mit der Zunge und wendet die Seite. Sie zeigt auf ein Foto. «Das war eines meiner ersten Wälschli.» Wälschli, so nennt sie die jungen Mädchen, die aus der französischen Schweiz zu ihnen für ein Jahr auf den Hof kamen, um Deutsch zu lernen.
Wälschli, Praktikantinnen, Lehrlinge, Gastarbeiter, Geflüchtete, Erntehelferinnen, Jenische; Die in der Geschichte des Landlebens auftauchenden Gestalten hatten viele Namen. Manche blieben für ein Essen, wenn sie um die Mittagszeit an der Tür klopften, um Schnürsenkel und Nylonfaden und Schuhwichse zu verkaufen, und eine Einladung an den Tisch nicht ausschlugen. Manche blieben für ein paar Wochen, Monate, Jahrzehnte, gingen freiwillig oder wurden von anderen Realitäten dazu gezwungen.
Pragmatisch, so war und ist das Zusammenleben auf Bauernhöfen bis heute. Und so kann auch eine Partei, die Hass gegen «Fremde» schürt, den Titel «Bauernpartei» nicht verdienen. Weil es eine Bäuerin wie Heidi ist, die das selbstgebackene Brot mit Polen, Tschechen, Afghanen und Syrern teilen. Weil es ein Bauer wie mein Onkel ist, der weiss, wie man «Danke» und «Gut» und «Fertig Arbeit» auf ukrainisch und serbisch sagt.
Weil sie verstanden haben, was pragmatisch, was Familie, eigentlich bedeutet.
Heidi blättert weiter. Eine wunderschöne Frau mit gewellten Haaren lächelt uns breit entgegen. Sie trägt lange weisse Handschuhe und elegante, vorne spitz-zulaufende Stöckelschuhe, der weisse glockenförmige Rock endet unter den Knien.
«Ich habe nur vier Fotos von unserem Hochzeitstag, stell dir vor.»
«Das ist, glaube ich, das schönste Hochzeitskleid, das ich je gesehen habe», sage ich und Heidi lacht. «Ja, ja, ja ja» murmelt sie und blättert weiter und fügt trocken hinzu:
«Ich habe es später einem meiner Wälschli geschenkt.»