Zur Hosenrolle in der Oper, Episode 2
Und da sind sie also wieder. Wir haben sie alle in Episode 1 zum Thema unter der Überschrift «Beherzte Verführer, Draufgänger mit Degen oder wahrhaft Liebende? – Frauen im Gewand von Männern» schon mit ihren Namen genannt. Die Buben, wie Hänsel; Jungs wie Cherubino oder Octavian und Männer wie Romeo.
Und da ist Solenn’ Lavanant Linke, die ihnen für die Dauer einer Vorstellung ihre Stimme leiht – und nicht nur das. Immer geht es darum, in der Darstellung, sprich Verkörperung ihrer Bühnenmenschen, ihnen auch eine Seele zu verleihen. Als die Frau im männlichen Gewand. Die Mezzosopranistin tut es ab Mai 2024 als Amanzio und ganz aktuell mit Humperdincks Hänsel und Bellinis Romeo. Ursula Benzing und Solenn’ Lavanant Linke haben über sie gesprochen.
Solenn’, was ist für dich männlich, was verbindest du mit Männlich-Sein im Zusammenhang mit einer sogenannten Hosenrolle?
Mir kam sofort dies in den Sinn: «Hosenrolle» ist eigentlich ein fettes Etikett, denn zunächst birgt jeder Bühnen-Charakter einen Menschen. Die Phase des Erarbeitens einer bestimmten Rolle ist für mich grundsätzlich immer sehr spannend. Ich erstelle mir dafür eine Liste. Jetzt einmal für eine weibliche Partie gesprochen: Da kommen auf meine Liste Fragen dieser Art: Wie ist ihr Verhältnis zu ihrem Körper, wie das zur Familie, das zu einem möglichen Lover, zur Gesellschaft und so weiter. Fragen wie Antworten dekliniere ich sozusagen für den Charakter der Figur durch, die ich verkörpern soll. Dieses Modell wende ich auch auf den eines Mannes an. Wobei auf meiner «Männerliste» tatsächlich auch etwas anderes steht, wie: Was wünscht sich der Mann? Was erwartet er? Und ich denke auch darüber nach, womit würde ich als Mann kämpfen? Was würde mich reizen?
Du erstellst demnach eine Liste «männlich» und eine Liste »weiblich«. Macht es denn einen Unterschied für dich in der Verkörperung einer männlichen oder weiblichen Figur, was du trägst? Anders gefragt: Dient das, was du trägst, zur Identifikation mit der bestimmten Figur bei?
Das Thema Kostüm macht keinen Unterschied. Ganz allgemein gesprochen ist es für mich so: Wenn mich das Kostüm nicht stärkt, habe ich doppelt so viel Arbeit.
Für Octavian im «Rosenkavalier» sprachen wir lange darüber, ist es eine Frau, die einen Mann spielt, oder ist das ein Mann, und wir vergessen, dass ich eine Frau bin, oder ist das ein genderfreies Wesen.
Du bringst damit zum Ausdruck, dass für dich jedes Mal der Mensch im Mittelpunkt steht. Und dennoch gibt es spezifisch weibliche und ebenso spezifisch männliche Attribute. Ich empfand dich als Octavian als einen sexy Typ. Als Mann, den eine Frau attraktiv und toll findet. Demnach hast du ihn glaubhaft dargestellt. Und gerade darüber das erotische Begehren der Feldmarschallin in deine Octavian-Richtung beglaubigt.
Das war auch Teil meiner Arbeit. Wie eine Inspirationsfigur hierfür wirkte der junge Mann in «Cheri», dem Roman von Colette auf mich: Ihm passiert Ähnliches, auch er verliebt sich in eine verheiratete Frau und sie ist auch älter als er. Und ja, ich dachte, das muss alles auf «Octavians Liste«: Er ist jung, in einem Alter, in dem er viele Entdeckungen macht. Er zeigt auch eine kindliche Seite. Mit Sophie rutscht er in das etwas jüngere Octavian-Ich, mit der Marschallin in das Reifere. Der Strauss’sche Gegenpart ist bestimmt der Komponist (in «Ariadne auf Naxos»). Er ist für mich ein intellektuelles und politisches Wesen. Zwar wirkt er kurz von Zerbinetta wie hypnotisiert, kehrt dann aber auch ganz schnell zurück in seine Welt der Noten, der Kunst. Der Komponist ist für mich ein Mann, bei dem ich nicht in oder über die Sexualität gehen würde, sondern in etwas anderes, das ihn für mich ausmacht, und das hat mit Intellektualität zu tun.
Ist das Hineinbegeben in eine Figur bei dir dann auch eine intellektuelle Leistung, in dem Sinne, dass du dich mental darauf einstimmst, dich mit der Figur beschäftigst – und du sie über eine bestimmte Haltung belebst?
Ja, und das ganz intensiv. Denn ich nehme immer auch das Ganze wahr. Dazu zählt das Umfeld der Figur. Erst dann finde ich Antworten darauf: Worin kann es begründet liegen, dass meine Figur dies oder jenes tut. Zum Beispiel Romeo. Es wundert mich, dass er so schnell so hin- und herspringt. In dem einem Moment sagt er zu Giulietta: «Komm, lass uns fliehen». Und kurz darauf kommt aber schon von ihm: «Du liebst mich nicht so, wie ich dich liebe». Da erkenne ich leider, – die natürlich auch schöne Leidenschaft, – aber auch die Attitude eines Macho.
Ja, Romeo ist sprunghaft und für ihn hatte ich mir unter anderem notiert: Er ist auch ein Kämpfer, in gewisser Weise ein Widerständler, erstmal gegen die Konvention, als lebe er nach dem Motto: Ich füge mich nicht in ein etabliertes bestehendes gesellschaftliches Modell ein.
Da agiert Romeo ziemlich modern. Und sein schwankendes Wesen hat sicherlich damit zu tun, und davon bin ich überzeugt, dass er jemanden getötet hat. Und zwar den Sohn Capellios, im Kampf.
Was Romeo bedauert. Bestimmt hat das Töten etwas mit ihm gemacht. Es war eine Art Schlüssel-Ereignis. Dann finde ich ihn aber auch ziemlich klug, strategisch klug, wie er zu einem Kniff greift: Er entscheidet, bei den Capuleti als Botschafter verkleidet aufzutreten und macht ihnen ein Friedensangebot. Das ist, meiner Meinung nach, in erster Linie eine politische Grosstat. Auch wenn es dabei inhaltlich um die Verheiratung mit Giulietta geht.
Und trotzdem reduziert er sein Angebot genau darauf, und eben doch der Konvention dieser Zeit folgend, denn so wurde das geregelt: Die arrangierten Hochzeiten. Meistens versprachen die Väter ihre Töchter einem bestimmten Mann. Es ist ja noch gar nicht so lange her, dass die Wahl der Partner*innen frei ist. Und natürlich gibt es das heute auch noch in anderen Kulturen, dass Frauen zwangsverheiratet werden. In unserer Oper hat Capellio seine Tochter Tebaldo versprochen. Das hat sicher auch politische Gründe.
Und so will auch Romeo das lösen, denn er glaubt daran und bringt das bei den Capuleti auch so vor: Indem Romeo mit Giulietta verheiratet wird, kann der grosse Graben der Familienfehde überbrückt werden. Aber Giulietta macht es dir dann auch nicht leicht.
Das stimmt, denn ich bitte sie, mit mir zu kommen und sie sagt nein. Auch sie ist zerrissen. Vor allem der Vater zieht an ihr.
Im Miterleben der Geschehnisse, also als Zuschauerin, würde ich mir wünschen, dass sie so reagiere: Wow, das ist ein super Kerl, dieser Romeo, der ist draufgängerisch, der ist attraktiv, der sagt: «Ich liebe dich», er sagt auch: «Komm, wir hauen zusammen ab.» Aber Giulietta kann so weit nicht gehen, weil da dieses zu starke Familien-Band mit so viel Kraft an ihr zieht.
Wenn ich das inszenieren würde, würde ich zeigen, wie viel Gewalt da auch herrscht. Giulietta hat Angst, um sich selbst. Zu Romeo sagt sie «Willst du dein Leben riskieren? Was haben wir davon, wenn wir zusammen fliehen?» Weil sie weiss, sie würden gar nicht weit kommen. Der Vater fände sie überall. Und ich bin davon überzeugt, der Vater würde auch sie töten, wenn sie aus den Mauern, in denen sie immer schon lebt, ausbrechen würde.
Das ist eine bewegende Szene, wo sie zu ihrem Vater sagt: «Verzeih mir, sei einmal in deinem Leben gnädig.»
Dein Romeo, es war ein bravouröses Debut am 3. Dezember, nochmals Chapeau! Nun singst du zeitgleich auch Hänsel, eine ganz andere Figur. Ist das reizvoll?
Ja, unbedingt, alle Figuren sind reizvoll. Sie alle haben so viel zu erzählen. Und mir sind unterschiedliche Ebenen von Inspiration wichtig. Vor allem lasse ich mich von Menschen inspirieren. Darunter die, die ich sehe; es gibt welche, die ich kenne; es gibt solche, die ich mir vorstelle, deren «Bilder» sich einstellen, wenn ich beispielsweise ein Buch lese. Und es gibt auch kleine Details, die mich anregen. Zum Beispiel, wie Hänsel auf dem Boden liegt. Da «zitiere» ich meinen Sohn. Er ist den ganzen Tag wie ein Wirbelwind unterwegs und dann liegt er abends im Bett, so kerzengerade ausgestreckt wie ein I. Oder an der Stelle, wo Gretel nach dem Abendsegen im Wald meine Nähe sucht, also die ihres Bruders Hänsel. Zunächst möchte ich zeigen, dass mir diese Nähe zu viel ist. Das habe ich, Hänsel, bestimmt meinem Vater abgeschaut. Aber dann übernimmt doch die Fürsorge des Bruders für die jüngere Schwester. Und deshalb herze ich sie.
Jetzt hast du ganz unterschiedliche Hosenrollen gesungen. Gibt es darunter eine, von der du sagst, diese ist mir besonders nahe. Unabhängig von der Tessitura. Octavian braucht ja etwas anderes von dir stimmlich als ein Ruggiero oder Romeo?
Ich finde hochspannend, dass es sich für mich bis jetzt immer so gefügt hat, das die Rollen zu mir kamen, immer passend zu dem Weg, den ich gerade als Künstlerin gehe. Ich darf sagen, sie kamen immer im richtigen Moment. Es gab eine Phase, da folgten direkt aufeinander fünf unterschiedliche Produktionen von «Le Nozze di Figaro»; ich sang also fünf Mal Cherubino und habe jedes Mal etwas anderes gelernt. Cherubino hab ich so gerne, weil es sich so anfühlt, als trage ich ihn als Unterwäsche. Das liegt daran, dass ich ihn so viel gesungen habe. Und er ruft Tolles ab: Ich darf frech sein, weil er frech ist.
Könnten wir anstatt «Cherubino ist meine Unterwäsche» auch sagen: Cherubino ist die zweite Haut?
Ja, auf jeden Fall. Und auch Octavian. Nur, dass der etwas älter ist.
Dann legen wir Octavian über Cherubino. Und was kommt über Octavian?
Die beiden haben eine Verbindung. Romeo ist ganz anders. Auf jeden Fall ist es ein mediterraner Charakter. Impulsiv, stolz, sinnlich. Dass er traumatisiert sie, darüber sprachen wir schon: Weil er jemanden getötet hat und von den Kriegsgeschehen, die auch noch kein Ende gefunden haben. Für die Traumatisierung spricht zusätzlich, dass er ja immer das Fläschchen Gift bei sich hat. Das muss man sich mal vorstellen. Dieser Romeo spaziert durch die Welt mit Gift in der Tasche. Ich muss da auch an die Widerstandskämpfer der Résistance denken. Das Gift als Schutz auch einer grösseren Sache, weil unter Folter kaum jemand besteht. In «Capuleti» wird erzählt, dass die Nähe von Tod omnipräsent ist. Ich glaube, dass es noch nicht so lange zurück liegt, dass Romeo Capellios Sohn getötet hat. Romeo lebt in meiner Wahrnehmung so, als hätte er nichts mehr zu verlieren.
Vielleicht hat er einen Teil seines «Selbst» auch schon verloren.
Ich stelle mir vor, wenn ich an die beiden Familien der Capuleti und Montecchi denke, dass Romeos Vater sogar von den Capuleti getötet wurde. Und so wurde Romeo zum Anführer der Montecchi. Vielleicht in der Nachfolge seines getöteten Vaters.
Romeo musste zu schnell erwachsen werden. Dass wir über seinen Vater nichts erfahren entspricht auch der Opernkonvention dieser Zeit. Wie wir in den meisten Opern ja auch nie etwas über die Mütter erfahren oder sie gar kennenlernen.
Meine letzte Frage, liebe Solenn’. Von welcher Frauenrolle träumst du?
Es gibt mehrere Figuren, die mich beschäftigen. Im Alltag. Zum Beispiel Jeanne d’Arc. Und natürlich auch Bühnenrollen. Grundsätzlich interessiert es mich immer, was sich unter der Oberfläche verbirgt. Deshalb recherchiere, beobachte und lese ich viel. Daran schliesst die Phase des Denkens, Träumens an, gefolgt vom Reinschlüpfen in diese Wesen – und loslassen können muss ich sie dann auch wieder.
Beitrag von Dr. Ursula Benzing